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Thomas Hirschhorn: Was lässt Sie an die Kunst glauben?

Was kann Kunst im öffentlichen Raum bewirken? An wen richtet sie sich – und wo soll sie erscheinen? Und warum glaubt Thomas Hirschhorn bedingungslos an die Transformationskraft der Kunst? Ein per E-Mail geführtes «Pingpong» mit dem Künstler, kurz vor seinem Besuch im Bündner Kunstmuseum.

Von Mathias Balzer – Chur, 15.05.2024

Der aus Davos stammende Künstler Thomas Hirschhorn zeigt im Bündner Kunstmuseum eines seiner «Mappings» zum Thema Kunst im öffentlichen Raum. Das Werk hat uns zu Fragen inspiriert, die wir dem in Paris lebenden Künstler in einem schriftlichen «Pingpong» gestellt haben.

Herr Hirschhorn, was war Ihre Initialzündung, Ihre erste Motivation, Kunst im öffentlichen Raum zu zeigen?

Thomas Hirschhorn: Ich wollte – vom Moment an, als ich beschloss, meine Arbeit «Kunst» zu machen – immer auch im öffentlichen Raum arbeiten. Meine erste Arbeit im öffentlichen Raum habe ich 1989 in Irland gemacht. Es schien mir als absolute Notwendigkeit, dass ich meine Kunst in der Galerie, im Museum, im alternativen Kunstraum, aber auch auf der Strasse zeigen muss.

Für mich war klar, dass Kunst im öffentlichen Raum zu machen, eine wichtige, strategische Entscheidung des Künstlers, der Künstlerin sein muss. Dass Kunst im öffentlichen Raum und die Gedanken dazu ein eigenständiger Bestandteil der ganzen Kunstarbeit sein müssen. Dass Kunst im öffentlichen Raum nicht einfach eine «Auszeichnung» oder eine «Gelegenheit» in der Karriere sein soll. Meine Vorbilder dafür sind deshalb auch Künstler:innen, die immer auch Kunst im öffentlichen Raum gemacht haben, wie Joseph Beuys, dessen Fan ich bin.

Meistens wird bei Kunst im öffentlichen Raum die Idee ins Feld geführt, man wolle die Kunst raus aus den Galerien und Museen bringen, hin zu den Menschen. Ist das auch für Sie die primäre Intention?

Meine primäre Intention ist, dass meine Arbeit überall, in jedem Umfeld und in jedem Kontext bestehen kann und sich behaupten muss.

Es gibt keinen idealen Ort für Kunst – und auch der öffentliche Raum ist deshalb nicht ein idealer Raum.

Aber Kunst im öffentlichen Raum zu machen ist eine komplexe Herausforderung für den Künstler, die Künstlerin. Es geht darum, sich mit dem – wie ich es nenne – «Nicht-Exklusiven-Publikum» auseinanderzusetzen. Und es geht darum, die Problematiken des öffentlichen Raumes anzunehmen und den Fragen nach dem Standort der Kunst eine Form zu geben.

Welche Fragen sind das?

Etwa: An welchem Standort macht das Kunstwerk heute Sinn? Oder die Frage nach der Dauer des Kunstwerks: Wie wird die Nachhaltigkeit des Kunstwerks ausgelegt? Oder nach der Implikation, die das Kunstwerk provoziert: Mit wem kann das Kunstwerk eine Kooperation aufbauen? Im Übrigen fehlt es im Museum oder in der Galerie nicht an Menschen, es fehlt an Konfrontation, am Urteil. Es geht nicht darum, die Kunst aus dem Museum zu bringen. Es geht im Gegenteil darum, «Öffentlichkeit» und das «Nicht-Exklusive-Publikum» ins Museum zu bringen.

Bleiben wir doch grad bei der ersten Ihrer Fragen: An welchem Standort macht das Kunstwerk heute Sinn?

Es macht Sinn, sich mit Kunst im öffentlichen Raum überall da zu konfrontieren, wo auch andere Auseinandersetzungen stattfinden, vor allem da, wo Menschen leben. Das heisst, an Orten, die nicht ausschliesslich für Kunst, für Freizeit oder für Erholung bestimmt sind. Und auch nicht da, wo «Kunst nicht stört» oder «wo es Platz hat» oder gar, «wo es einen vorhergesehenen Ort» gibt, wie zum Beispiel auf der New Yorker «High Line». Kunst muss grundsätzlich immer störend, unvorhergesehen, angreifbar, überraschend sein können. Die Standortfrage von Kunst im öffentlichen Raum ist ein entscheidendes künstlerisches Problem, denn die Aussage, wo Kunst ist, ist an sich die «Form» des Kunstwerks.

Deshalb denke ich, dass Kunst im öffentlichen Raum mehr sein muss und mehr sein kann als ein Objekt in einem Stadtpark, vor einem Regierungsgebäude, vor einer Bank- oder Versicherungsanstalt – oder gar in einem Museumsgarten. Als eine der wichtigsten Fragen und Problematiken von Kunst im öffentlichen Raum, ist demnach die Standortfrage nur vom Künstler, der Künstlerin selbst zu beantworten und zu bestimmen. Denn diese Frage ist konstitutiv für das Kunstwerk. Deshalb denke ich, dass der Standortentscheid einer der herausforderndsten und schönsten Entscheide von und für Kunst im öffentlichen Raum ist.

Nehmen wir ein konkretes Beispiel: Die riesige Robert-Walser-Skulptur auf dem Bahnhofplatz von Biel hat vor fünf Jahren zu Kontroversen geführt. Gerne wurde vom «Skandal-Künstler» Hirschhorn geschrieben. Die Installation hat jedoch unterschiedlichsten Menschen aus Biel eine Plattform geboten. Auch beim «Gramsci-Monument» in New York (2015) sind Sie ähnlich vorgegangen. Sie bauen Monumente für Poeten oder Schriftsteller, die gleichzeitig zur Plattform oder zum temporären Lebensraum für – oft – randständige Existenzen werden. Ist das Ihre Interpretation der «Sozialen Skulptur» von Beuys, den Sie oben erwähnt haben?

Für die «Robert-Walser-Sculpture» habe ich mir vier konkrete Ziele gesetzt. Erstens: Robert Walser ehren und über sein Werk und sein Leben informieren. Zweitens: Robert Walser neu denken. Drittens: Begegnungen schaffen. Viertens: Ein Ereignis sein.

Zudem wollte ich in Biel/Bienne der Behauptung Form geben, dass Nachhaltigkeit durch die Intensität des Moments geschaffen wird – und nicht durch eine bestimmte Materialität oder durch ein Objekt erzeugt werden kann. Ich bin überzeugt, dass Kunst im öffentlichen Raum nur bestehen kann, wenn sie durch das Geheimnis ihres Daseins, durch ihre prekäre Erscheinung und dank der Momente der Grazie, die sie erzeugen kann, «Dauerhaftigkeit» schafft. Alle meine Arbeiten im öffentlichen Raum – bis jetzt über 75 Kunstwerke – sind prekäre Kunstwerke, aber sie wollen – wie alle Kunst – für immer, für die Ewigkeit da sein.

Was meinen Sie mit prekär?

Das «Prekäre» ist ein für mich wichtiger Begriff. Ich will mit ihm arbeiten und ihn hochhalten, deshalb benutze ich Begriffe von anderen Künstler:innen oder Kunsttheoretiker:innen nicht, etwa wie die von Ihnen genannte «Soziale Plastik» von Beuys. Ich will und muss an meinem eigenen Begriff von «Kunst» arbeiten. Ich will die «Prekäre Skulptur», das «Prekäre Monument», das «Prekäre Museum» erschaffen.

Es geht dabei darum, das Prekäre zu feiern, darüber nachzudenken.

Und es geht darum, für das «Pflegeleichte» und auch für die – heute – zerstörten Statuen, gestürzten Skulpturen und abgebauten Monumente eine Alternative zu schaffen. Denn nur die aus «Liebe» gebauten Monumente werden bleiben. Alles, was aus Hass, um zu dominieren, zu unterdrücken oder um einzuschüchtern entstanden ist, wird stürzen. Die «Robert-Walser-Sculpture» ist eine Form für dieses auf Liebe gebaute Kunstverständnis, das sich im öffentlichen Raum zeigt.

Im Übrigen habe ich bei der «Robert-Walser-Sculpture» viel gelernt. Zum Beispiel niemanden mehr – meinerseits – als «randständig» zu bezeichnen.

Das lerne ich gerne von Ihnen. Danke!
Sie zeigen derzeit im Bündner Kunstmuseum zwei Mappings. Eines über Friedrich Nietzsche, das andere zur Kunst im öffentlichen Raum. Sie schreiben dort unter anderem: «Jeder Mensch kann durch die Kraft der Kunst transformiert werden.» Was genau meinen Sie mit dieser Transformation?

Der Satz im Mapping lautet: «Kunst – weil sie Kunst ist – besitzt die Macht der Transformation, der Transformation jedes einzelnen Menschen.» Damit meine ich, dass Kunst etwas ist, das sich an das, was wir nicht kennen, nicht wissen, nicht ahnen und nicht fühlen, richtet. Statt «Transformation» kann man auch «Veränderung» sagen.

Kunst selbst ist das Werkzeug, mit welchem wir uns mit dem Unbekannten, dem Neuen, dem Geheimnisvollen, dem Undenkbaren auseinandersetzen können.

Und wenn wir uns – als Menschen – darauf einlassen, vertrauen wir der Macht der Veränderung durch Kunst. Wenn wir wissen, dass jede wirkliche Kunsterfahrung eine Herausforderung und eine Grenzerfahrung ist, dass sie aber gerade deshalb neue Horizonte, neue Denkwege aufzeigt und neue Perspektiven eröffnet, führt sie logischerweise zu Veränderung.

Und was braucht es, damit die Menschen sich auf diese «Macht der Veränderung durch Kunst» einlassen?

Es braucht Vertrauen in die Kunst. Und wer an dieses Vertrauen appelliert – an das Ur-Vertrauen der Kunst gegenüber – kann sich verändern. Wichtig ist in meinem Satz, dass es «jedes einzelnen Menschen» heisst, denn es geht hier immer um jeden und jede von uns, um eine Begegnung auf Augenhöhe. Die Veränderung geschieht natürlich nie «automatisch», denn sie muss auf einem emanzipatorischen Entscheid, sich vorbehaltlos auf Kunst einzulassen, basieren. Das heisst wiederum, es geht darum, sich auf etwas einzulassen. Nämlich auf Kunst – die wirkliche Macht über uns besitzt. Wer sich also darauf einlässt, wer an sie glaubt und wer keine Angst vor Kunst hat, verändert sich. Und diese Transformation kann ebenfalls ein Geheimnis sein und bleiben.

Sie formulieren hier eine tiefgründige Sinnhaftigkeit der Kunst. Gleichzeitig schreiben Sie in Ihrem Mapping zur Kunst im öffentlichen Raum: «Es ist wichtig, dass wir auf Nonsens bestehen.» Welche Rolle spielt denn der Nonsense in Ihrer Kunst?

Der «Nonsense» ist deshalb so wichtig, weil alles heute Sinn machen muss, sinnvoll sein muss. Nichts darf mehr sinnlos sein.

Wenn aber alles nur «sinnvoll» ist, kann das Hirn nicht mehr atmen.

Es geht jedoch nicht darum, Sinn und Sinnlosigkeit gegeneinander auszuspielen oder gegeneinander zu werten, vielmehr denke ich, dass «Sinnlosigkeit» wichtig ist, nicht nur fürs Hirn, sondern auch für die Seele. Deshalb liegt es an uns Künstler:innen, Raum und Zeit für das Sinnlose zu schaffen, es willkommen zu heissen und es einzuschliessen.

Gerade bei Kunstarbeit mit dem «nicht-exklusiven Publikum» ist es entscheidend, für Sinnlosigkeiten offen zu sein. Denn darin liegt auch immer das Potenzial, andere einzuschliessen. Man kann «Nonsens» sehr gut mit anderen teilen. Und zudem ist es so: Was sinnlos erscheint, kann – unter einer anderen Beleuchtung gesehen – wertvoll sein. Ich will also nie «Nonsens» grundsätzlich ausschliessen, ich will das Sinnlose in meiner Arbeit willkommen heissen.

Sie schreiben im Mapping auch: «Ich glaube an die Kunst und den Glauben an die Kunst.» Nun ist der Glaube ja etwas, das man nicht einfach geschenkt bekommt. Das wird in den Biografien von Gläubigen sichtbar. Sie werden diesen Mai 67. Was hat Sie – bei allen Zweifeln, die es sicher auch gab – den Glauben an die Kunst bewahren lassen? Gibt es dafür eine Art Training?

Ich wurde nicht als «Künstler» geboren. Ich wusste, als ich jung war, nicht, dass es so was wie «Künstler:innen» gibt. Und als Kind kam mir nicht in den Sinn – trotz meines Zeichentalents – Künstler zu werden. Ich kam erst spät mit Kunst in direkten Kontakt und habe erst spät entdeckt, dass Kunst etwas ist, was mich – Eins zu Eins – anspricht und mich magisch impliziert. Ich musste mich zur Kunst emanzipieren. Dazu bin ich meinen – ganz eigenen – Weg gegangen.

Die Begegnung mit Kunst kam zwar spät, aber sie war eine Begegnung auf Augenhöhe, etwas Erhabenes, etwas Schönes, etwas Glücklichmachendes, etwas Erwachsenes, etwas Unbeirrbares, etwas Absolutes. Ich hätte dann diesen Weg nicht weiter begehen können, ohne den Glauben an die Kunst. Dieser Glaube ist durch die ersten entscheidenden Begegnungen mit Kunst geboren worden. Er hat sich dann über die Jahre durch all die Berührungen und Auseinandersetzungen mit Kunstwerken verstärkt. Und natürlich hat er sich auch durch meine eigene Erfahrung als Künstler vertieft.