« Ur-Collage » (2008) – [ger]

Eine „Ur-Collage“ ist eine einfache, primitive, prähistorische Collage. Ich will Collagen machen, die die Evidenz selbst sind. Ich will dem ‚Ursprung‘ einer Collage Form geben. „Ur-Collage“ heissen sie, weil sie ursprüngliche Collagen sind, ich wollte keine simplere Collage mehr machen können. Das Offensichtliche einer „Ur-Collage“ liegt darin, aus nur zwei Elementen der bestehenden, existierenden Welt eine neue Welt zu schaffen. Diese beiden Elemente oder Bilder sind Drucksachen und es ist das, was die beiden Bilder verbindet, dass sie Drucksachen sind. Eine der Drucksachen ist eine doppelseitige Werbung und die andere Drucksache ist ein Bild ausgedruckt auf dem Homeprinter. Ich sage nicht, dass dieses eine Bild – das Bild eines toten, zerstörten Menschen – aus dem Internet kommt, wie wenn es aus einer anderen Welt kommen würde. Denn dieses Bild ist auch von dieser Welt. Das eine Bild wird nicht angeklagt und das andere Bild klagt, vielmehr will ich die beiden Bilder miteinander verbinden, sie zusammenführen, ich will sie zu einem neuen Weltbild zusammenkleben. Was die beiden Elemente verbindet, bevor ich sie zusammenklebe ist, dass sie beide Bilder von der existierenden, mich umgebenden Welt sind. Es sind Elemente, Bilder unserer ungeteilten Welt, unserer einzigen Welt.

Ich lebe in dieser komplexen, chaotischen, grausamen, schönen und wundervollen Welt. Darin will ich glücklich sein und ich will dass meine Arbeit das widerspiegelt. Die „Ur-Collage“ ist eine Basis dazu. Ich bejahe die Welt in der ich lebe und will das Negative dieser Welt mitbejahen. Ich bejahe die Welt in der das Negative auch gezeigt wird und worin der harte Kern der Wirklichkeit, des Negativen nicht ausgeklammert wird. Ich will auch diesen harten Kern zeigen. Ich will mich dem Negativen zuwenden, ich will kein Zyniker sein und kein Schlauer. Ich will nicht wegschauen, ich will mich nicht wegdrehen und ich will nicht übersensibel sein. Ich will aufmerksam sein und ich will eine neue Welt schaffen, mit und in der bestehenden Welt. Das will ich mit „Ur-Collage“. Sie zeigt das, sie behauptet das und sie verteidigt das. Die „Ur-Collage“ ist Form dieser neu geschaffenen Welt. Eine „Ur-Collage“ zu machen, heisst einverstanden zu sein mit der Welt. Einverstanden zu sein, heisst nicht gut zu heissen. Einverstanden zu sein, heisst hinschauen. Einverstanden zu sein heisst, sich nicht wegdrehen. Einverstanden zu sein, heisst Widerstand zu leisten und den Tatsachen zu widerstehen.

Eine „Ur-Collage“ ist keine Information, kein Journalismus, kein Kommentar. Eine „Ur-Collage“ schafft eine Wahrheit und es geht für mich darum, dieser Wahrheit eine Form zu geben. Die „Ur-Collage“ will eine neue Wahrheit schaffen.

Ich liebe es Collagen zu machen. Es ist etwas Grundsätzliches für mich und etwas Wesentliches. Ich liebe Collagen von John Heartfield, Hannah Höch, Kurt Schwitters und über alles das dreidimensionale „Grosses-Plasto-Dio-Dada-Drama“ von Johannes Baader. Ich mache zweidimensionale aber auch dreidimensionale Collagen. Ich gehe dabei immer vom Zweidimensionalen aus. Wichtig ist, dass ich immer von den beiden Dimensionen einer Collage ausgehe, auch wenn die Arbeit im Raum ist. Nie gehe ich vom Raum oder der Architektur aus.

Eine Collage zu machen ist einfach und es geht schnell. Eine Collage zu machen macht Spass und ist zugleich verdächtig – zu einfach ist es, zu schnell geht es. Es ist vielen zu wenig seriös und wird von vielen als unreif bezeichnet. So werden besonders im Jugendalter Collagen gemacht. Aber eine Collage ist etwas Widerständiges, sie entgleitet der Kontrolle, auch der Kontrolle dessen der sie macht. Das ist das Widerständige daran. Eine Collage zu machen, hat immer etwas mit Kopflosigkeit zu tun. Gerade das interessiert mich, denn kein anderes Ausdrucksmittel hat so eine grosse Sprengkraft. Eine Collage ist geladen und bleibt immer explosiv. Bei einer Collage trifft zu, dass ich – als Künstler – oft dumm dastehe, dass es aber genau darum geht, dieses „dumm auszuschauen“ auszuhalten. Keine andere Technik ist so weltumspannend wie die der Collage – fast jeder Mensch hat in seinem Leben schon mal eine Collage gemacht – das ist das Verbindende daran und dies heisst, dass fast jeder Mensch sich einmal im Leben ein Bild von dieser Welt versucht hat zu machen. Eine Collage ist etwas Universelles und es ist eine Öffnung hin zu einem ‚Nicht-exklusiven Publikum‘.

Thomas Hirschhorn, Aubervilliers, Herbst 2008