Zu den in „Nachwirkung“ integrierten 5 Kunstwerken (2015)

Aus der Sammlung der Kunsthalle Bremen habe ich 5 Kunstwerke ausgesucht um sie in meine Arbeit „Nachwirkung“ zu integrieren. Es sind Kunstwerke die für mich wichtig sind und ich will hiermit klären warum ich diese 5 Werke ausgesucht habe: Jedes dieser Kunstwerke besitzt seine Notwendigkeit und jedes der Kunstwerke zaehlt. Alle diese 5 Kunstwerke sind gleich wichtig, ‚wichtig‘ heisst nicht bedeutsam, denn kein Kunstwerk ist nicht ‚bedeutsam‘ oder ‚bedeutungsvoll‘. Auch ‚schlechte Kunstwerke‘ sind bedeutungsvoll, denn es geht nicht um Bedeutung, es geht nie um Bedeutung. Es geht darum, dass die von mir ausgewählten Kunstwerke unverzichtbar sind. Die 5 Kunstwerke sind Werke, die alle einen eigenen Sinn jenseits der Bedeutung behaupten, es sind Sinnbehauptungen. Wichtig ist dabei, dass sie Behauptungen sind und dass sie durch ihre Behauptung insistieren. Um mich gegenueber ihrer Insistenz zu engagieren und zu verpflichten, will ich diese 5 Kunstwerke in meine integrieren. Durch das – schräg gehängte – Integrieren in „Nachwirkung“ bekommen sie etwas Objekthaftes. Damit geht es darum sie gegen ihren blossen Inhalt zu zeigen und es geht darum, sie gegen ihren eigenen Inhalt zu verteidigen. Nicht etwa, um sie von ihrem Inhalt zu entfernen, sondern um zu zeigen, dass die Sinnbehauptung, die sie darstellen alles ‚Nur- inhaltliche‘ hinter sich lässt. Es geht darum, dass diese 5 Kunstwerke ihren eigenen Inhalt verraten, indem sie auf etwas anderem als auf ihrem Inhalt insistieren, denn ich liebe diese 5 Kunstwerke nicht wegen ihres Inhalts, ich liebe sie als Widerstände, ich liebe sie als absolute Forderungen und ich liebe sie weil sie Überforderungen sind. Diesem Widerstand, dieser Forderung und Überforderung will ich Form geben und deshalb ist es notwendig, dass die 5 ausgesuchten Kunstwerke in „Nachwirkung“ integriert sind.

Casper David Friedrich, „Das Friedhofstor“, um 1825/30 Ich habe dieses Bild ausgesucht weil Casper David Friedrich ein Maler des Extremen ist. Die Bilder Casper David Friedrich’s sind extrem, weil er eine Vision hat und weil seine Vision unendlich weit trägt. So scheint sich das Bild “Das Friedhofstor” auf einen unbegrenzten Himmel zu öffnen. Die Bilder Casper David Friedrich’s – und “Das Friedhofstor” ist ein wunderbares Beispiel dafür – öffnen sich zur Unbegrenztheit, zum Unfassbaren, zur Ewigkeit. Seine kleinformatigen Bildern – wie “Das Friedhofstor” – schöpfen einen riesigen, unbegrenzten Raum. Mit grosser Präzision gesetzt, zum Beispiel in der strengen logischen Komposition liegt das unbegrenzte Kleine, das unendlich Unscheinbare, so der in der Bildmitte stehende Torbogen, der oben angeschnittene quadratische Turm und die in den Himmel ragende kleinere Turmspitze. Caspar David Friedrich’s Kunst hat nichts mit der ‘Deutschen Romantik’ gemeinsam und sollte er ein ‘Romantiker’ sein, dann wäre er ein ‘absoluter, harter Romantiker’. Das Bild “Friedhofstor” – schon der Titel beschwört das Unermessliche – ist geladen und vielschschichtig, es ist voller Energie und es besitzt eine undurchdringliche, ja unheimliche Dichte. Casper David Friedrich’s Kunst ist gespannt, sie ist überspannt, er ist ein Extremist.

Arnold Böcklin, „Der Abenteurer“, 1882 Ich habe dieses Bild ausgesucht weil es die Geschichte existentiellen Verlorenseins erzählt. „Der Abenteurer“ zeigt die existentielle Unbestimmtheit und Unsicherheit auf. Der Maler insistiert mit seiner Sensibilität an unsere Aufnahmefähigkeit ohne die Idee der Unendlichkeit aufzugeben. Dieses Bild ist nicht gemalt um verstanden zu werden, deshalb ist – es anzuschauen – ein Erlebnis. Es ist ein Bild das mich einlädt eine Erfahrung zu machen, denn durch Kunst eine Erfahrung zu machen – statt Kunst zu verstehen – ist ausschlaggebend, ‚Verständnis‘ ist nie der Punkt. Arnold Böcklin zeigt einen Widerständigen. Der Reiter im Bild erfahre ich als einen Krieger der für Freiheit, für Emanzipation und für Selbst-Befreiung steht. Das Bild „Der Abenteurer“ zeigt, dass Widerstand nicht Widerstand gegen etwas ist, sondern dass Widerstand ein Akt der Behauptung und des Selbst-Engagements ist. Es geht in der Kunst um Widerstand an sich. Dieser Widerstand ist nicht Negativität oder Verneinung weil Negativität und Verneinung den Menschen in seiner Abhängigkeit einschliessen wollen. Der Reiter im Bild „Der Abenteurer“ aber widersteht Negativität und Verneinung indem er unabhängig bleibt und bereit ist dafür den Preis zu bezahlen, dafür zeugen die Totenköpfe und die Knochen. Der Mensch im Bild „Der Abenteurer“ ist der erste oder der letzte Mensch. Beispielhaft kann ich in Arnold Böcklins’s Bild sehen, dass die Kunst an der Schöpfung eines neuen Menschen arbeitet. Das Bild Arnold Böcklin‘s zeigt einen Menschen – in seiner Einsamkeit und seiner Verdammung – der ein anderes Leben will. Dieser Mensch ist bereit dafür zu kämpfen und zu sterben.

Franz Marc, „Reh im Blumengarten“, 1913 Ich habe dieses Bild ausgesucht weil es eine Kampfansage gegen Kitsch, gegen Dummheit und gegen Sentimentalität darstellt. Franz Marc ist ein Künstler der Fröhlichkeit und gleichzeitig der Rebellion. Im Bild „Reh im Blumengarten“ wird das Einverstandensein des Künstlers mit der Gewalt, der Grausamkeit und der Schönheit der Realität sichtbar. Das im Bild – noch erkennbare Reh – ist dabei sich in Farben und Formen gefangen und verstrickt in eine abstrakten Komposition zu zerfallen oder aufzulösen. Das Bild ist – für sich – Zeugnis eines Aufstandes, denn das Subjekt des Bildes – das Reh – rebelliert gegen das eigene Subjektsein. Das Subjekt will sich selbst zersetzen und es ist einverstanden, sich in Farben und Formen auflösen, das zeigt mir der Künstler in überzeugender Weise. Franz Marc etabliert mit seinem Bild Mitgefühl und Solidarität mit dem Subjekt, das das Unausweichliche konfrontiert. Das „Reh im Blumengarten“ verkörpert den Umsturz des blossen Sehens, durch einer scheinbar prächtigen Farbenwelt hindurch, in neues Erkennen. Die Werke der Künstlergruppe „Der blaue Reiter“ – die ich als Kind sah – haben mich nachhaltig beeindruckt. Franz Marc ist mutig und er hat den Willen uns mit einer neuen Form ‚Kunst‘ zu konfrontieren, denn seine Kunst will etwas. Nichts ist weniger notwendig als Kunst die nichts will und nichts ist weniger wichtig als Kunst die nicht weiss, wofür sie steht. Mit der Wahl eines scheinbar harmlosen Titels für dieses Werk, verstärkt und unterstreicht Franz Marc zusätzlich das künstlerisch Unausweichbare und das Absolute seiner Behauptung.

Oskar Schlemmer, „Komposition mit vier Figuren“, 1936 Ich habe dieses Bild ausgesucht weil Oskar Schlemmer damit etwas berührt was über die Kunst hinausgeht. Er ermöglicht – durch sein Kunstwerk, durch Kunst – die Ausweitung von Kunst. Im Bild „Komposition mit vier Figuren“ wird – in Grautönen vibrierend, durch die vier Figuren oder durch die vier Pinselstriche – die Behauptung des Künstlers für eine Verantwortung des Menschen in der kommenden Zeit und für eine Selbst-Verantwortung in der kommenden Welt aufgestellt. Das Bild zeigt das Erweiternde, Unbegrenzte, Ausufernde und das Ausgefranste indem es radikal über sich selbst hinausgeht und bewusst über der sich selbst hinausweist. „Komposition mit vier Figuren“ ist ein Beispiel für den kraftvollen Geist des Künstlers der – der Kunst treu bleibend – ohne Politik, ohne Soziologie den/die Betrachter/in im Jetzt berührt. Oskar Schlemmers Kunst – als von den Nazi’s deklarierter „Degenerierte Kunst“ – ist Kunst die den menschlichen Körper – und damit seinen Geist – in den Mittelpunkt stellt. Die Nazis konnten das feine und subtile Widerständige in seiner Kunst nicht übersehen, denn Oskar Schlemmer zeigt, dass jeder Mensch – wie jeder Pinselstrich – als eine Behauptung existiert. Doch derjenige, der sich als Behauptung versteht kann damit auch die Autorität und das Autorenschaft über sein eigenes Leben übernehmen. Damit aber widersteht er Fremdbestimmung und Diktatur, das wird im Bild „Komposition mit vier Figuren“ eindrücklich geklärt. Die ästhetische Ideologie der Nazi konnte nicht begreifen, dass um Kunst zu sein, Kunst immer auch Nicht-Kunst berühren muss und dass um Kunst zu sein, Kunst immer den Kontakt zu dem was gegen etablierte Kunst ist, suchen muss. Die Dummheit der Nazis liess die Erkenntnis nicht zu, dass Oskar Schlemmer an einem wahrlich neuen Kunstbegriff arbeitet. Er schöpfte ein Werk, das etwas Neues, etwas Störendes und etwas Fremdes behauptet und das sich dadurch bestehenden Werten und bestehenden Kriterien widersetzt.

André Masson, „Nach der Exekution“, um 1937 Ich habe dieses Bild ausgesucht wegen seiner unwiderstehlichen, aufwühlenden Wahrheit. Dieses Bild ist voller Wagemut, weil es dem Skandal des Moments, dem Skandal der Freiheit und dem Skandal der Phantasie eine Form gibt. Jedes Kunstwerk – auch das noch so diskrete – besitzt diese skandalöse Dimension und André Masson’s Bild hat für mich diese Dimension gesprengt. „Nach der Exekution“ ist eine Bild-Behauptung, die aus unendlich mehr als einer Provokation der bestehenden Moral, besteht. Sein Werk zeigt auf, dass der Mensch nur als Exzessiver‚ als Überschreitender, als Hysteriker existiert. Auf dem Bild erkenne ich menschliche Gesichter, gezeichnet durch Unruhe, durch Hysterie und durch Extase, die durch die Verletzung des Gesetztes und die durch den Verstoss der Regeln entsteht. Fratzenhaft kommentieren, rechtfertigen, ‚informieren sich‘ die abgebildeten Figuren. Dieses Bild ist eine phantastische Kritik der Zeit in der wir – auch heute – leben. André Masson hat vorweggenommen, wie uns die heutige Zeit, die Zeit der ‚Information‘, der Meinung, des Kommentars – in der wir uns befinden – beeinflusst. Wir werden zu grotesk lachenden Eseln oder wiehernden Pferden – wie auf dem Bild zu sehen – die verständnisvoll und gleichzeitig ohne Verstand – zum passiven Beobachter, zum dummen ‚Informierten‘ oder zum lächerlichen Kommentatoren werden. Das Bild „Nach der Exekution“ ist deshalb von höchster ‚Aktualität‘, weil es ist ein zeitloses und universelles Kunstwerk ist. Es ist deshalb ein heraustehendes Beispiel dafür wie ein Kunstwerk – in der Zeit und mit der Geschichte in der es geschöpft wird – im Einklang sein muss, um gleichzeitig über die Zeit hinaus zu wirken und um gleichzeitig Geschichtslos zu sein. Bezeichnend dabei ist, dass unwichtig ist und bleibt warum eine Exekution stattgefunden hat, denn der getötete und davonschwebende Körper des Exekutierten erinnert uns an unsere universelle Sterblichkeit. Was zählt ist nicht die Exekution sondern ihre Nachwirkung.

Thomas Hirschhorn, 2015