“Pour une Bienveillance offensive” (2020) – [ger]

(Für eine offensive ‘Bienveillance‘)

Die dringendsten Aufgaben sehe ich darin das “Social Distancing” nun wieder abzubauen, Schritt für Schritt, Meter für Meter, Zentimer für Zentimeter. Die Kunstwelt – und damit meine ich die Künstler/innen, die Kunstinstitutionen, die Kunstakademien, die Kunstkritik, ja, der Kunstmarkt darf sich nicht “Social Distancing” zu Eigen machen. Ganz einfach weil Kunst – ohne jede Distanz – Autonom, Universell, Absolut und Notwendig ist. Ich muss zeigen und vorleben warum Kunst notwendig ist, warum sie für mich notwendig ist aber auch warum sie für den Anderen notwendig ist. Der toxische Begriff “Social Distancing” – ich zweifle dabei nicht an seiner zeitlich begrenzten Nützlichkeit – darf auf keinen Fall zum neuen Paradigma für das Zusammenleben in der Welt, in der Kunstwelt werden. Es ist dringend daran zu arbeiten und zu zeigen, dass Kunst – weil es Kunst ist – Eins zu Eins und in Augenhöhe einen Dialog oder eine Konfrontation erzeugen kann. Es ist wichtig darauf zu bestehen, dass Kunst ‘widerständig’ ist, was heisst, dass sie ökonomischen, kulturellen, politischen, ästhetischen Tatsachen widersteht. Es geht hier nicht darum die Bedrohung von ‘Covid-19’ zu ignorieren, es geht – im Gegenteil – darum sie Ernst zu nehmen, sie als Warnung, als Test, als Herausforderung zu verstehen. Ich denke, dass Kontakt, Begegnung, Austausch, Nachbarschaft, Auseinandersetzung, Freiheit, Freiheit in der Unfreiheit, Inklusivität, Multiplizität, Solidarität, Gleichheit, Kreativität Begriffe sind, die wichtiger sind den je, denn gerade sie wurden durch das erzwungene “Social Distancing” in Frage gestellt. Hier hat die Künstlerin/der Künstler eine entscheidende Rolle zu uebernehmen, haben doch Begriffe wie Distanz, Kontrolle, Soziale Kontrolle, Eingrenzung, Absicherung, Garantie, “Tracing”, Repression, Exklusivität nichts mit der Erfahrung ‘Kunst’ zu tun. Es gilt vielmehr Widerstand zu leisten, um opportunistischen, konsumeristischen und ausgrenzenden Tendenzen – die es immer auch in der Kunstwelt gab  – zu bekämpfen. Ich will nicht, dass “Social Distancing” in der Kunstwelt triumphiert, ich will für das Experiment ‘Kunst’ kämpfen. Meine Waffe dafür wird meine Arbeit sein – und ich will sie mit vermehrter ‘Bienveillance’ tun. (Ich benutze den französischen Begriff  ‘Bienveillance’ weil er präzise trifft was ich meine.) Ich will mit mehr ‘Bienveillance’ gegenüber dem Anderen arbeiten, ich will mit mehr ‘Bienveillance’ gegenüber der Welt – unserer ganzen, unsere einzigen Welt – arbeiten und ich will mit mehr ‘Bienveillance’ gegenüber mir selbst arbeiten. Ich will aus dieser Krise etwas lernen und Entscheidungen treffen. Es geht darum Kunst – mehr den je – als Werkzeug zu benutzen um mich mit der Welt auseinanderzusetzen, um mich mit der Zeit in der ich lebe zu konfrontieren und um mich der Realität die mich umgibt zu stellen. Das Prekäre, das Unsichere, das Nicht-Garantierte, das Ungewisse, das Unbestimmte, das Fremde, das was mir Angst macht, das Unheimliche will ich mit offensiver ‘Bienveillance’ in meiner Kunst konfrontieren. Ich denke an eine intelligente, generöse, dynamische, fordernde, aktive, behauptende, praktische und kämpferische ‘Bienveillance’ – es geht nicht um eine passive, abwartende, spirituelle, religiöse, theoretische ‘Bienveillance’. Ich will aufzeigen – darin sehe ich meine Mission als Künstler heute – wofür ich bereit bin zu leben und zu arbeiten. “Social Distancing” und “Homeoffice” gehören nicht dazu. Es wäre vielmehr ein Fehler in diese dumme und plumpe – aber auch verlockende – Falle zu treten. ‘Virtuelle Ausstellungen’, ‘virtuelle Kunstwerke’, ‘virtuelles Lernen’, ‘virtueller Ausstausch’, ‘virtuelle Kommunikation’ sind nur Scheinlösungen oder Entschuldigungen und sie sind umso gefährlicher, weil sie vom Staat gewünscht, gefördert oder sogar verlangt werden. Aber niemand – auch nicht der Staat – kann mir vorschreiben, wie ich in Zukunft arbeiten soll. Deshalb gilt es grundsätzlich dem Virtuellen und dem Digitalen gegenüber sensibel, kritisch, wachsam und aufmerksam zu sein – es gilt sich nicht hinter dem Computer zu verstecken. Der Versuchung des ‘unter-sich-bleiben’ und des ‘ins Internet abtauchen’ – auch in der Kunstwelt – müssen wir widerstehen. Wenn wir der Tendenz zur “Isolation” oder “Selbst-Isolation” nachgeben, würde das heissen, dass wir die Auseinadersetzung, die Diskussion, die Kritik, den Konflikt – all das was Kunst schöpfen kann – aufgeben. Deshalb auch hinterfrage ich – we viele Andere – das ‘Kontinuitäts-Dogma der Distanz-Technologien’. Aber ich nehme mich dabei nicht aus: So habe auch ich mich – mehrfach, in diesen Wochen – dem Drang zur ‘Kontinuität’ gebeugt und auch ich habe dabei ‘Distanz-Technologien’ benutzt. Dabei habe ich, wie viele, nur mitteilen wollen: “Ich existiere, ich lebe noch, ich arbeite weiter!” Dies werde ich mir, dem Künstler, dann verzeihen, wenn ich einlöse was ich mir vorgenommen habe: “Pour une Bienveillance offensive”.

T.H. Mai 2020